Koran, Sure 2, Vers 106

Koranübersetzung:
Wenn Wir eine Aya aufheben oder der Vergessenheit anheimfallen lassen, so bringen Wir eine bessere als sie oder eine gleichwertige hervor. Weißt du denn nicht, dass Allah Macht hat über alle Dinge?

Erläuterung:
2:106 – Āya = Qur’ān-Vers, wird zu den Zeichen Allāhs gezählt (vgl. oben die Verse 39 und 61). Als Anlass zur Offenbarung dieses Verses ist folgendes überliefert: Die Ungläubigen hatten das Tilgen angefochten und gesagt: Schaut euch den Muḥammad an, wie er seinen Gefährten etwas befiehlt, um es ihnen dann zu verbieten und das Gegenteil zu befehlen. Er sagt heute etwas und nimmt es morgen zurück. Daraufhin kam der Vers herab. (Zam, Gät) (vgl. 13:39; 16:101 und die Anmerkung dazu). Zu der Abrogation (arab.: Nasḫ) war der bekannteste Fall über das stufenweise Verbot des Weines, dessen Genuss in einem frühen Qur’ān-Vers als unbeliebt, in einem späteren als verwerflich und schließlich als verboten bezeichnet wurde. Ein anderes, ein noch grundlegenderes Prinzip berührendes Beispiel ist das des rituellen Gebetes, welches für die frühe Gemeinde nur zweimal täglich Pflicht gewesen war, nach der Himmelreise fünfmal Pflicht wurde. Die Zeitehe war in den frühen Tagen des Islam erlaubt gewesen, wurde aber schließlich verboten, nachdem die sozialen Bedingungen sich entwickelt, der Respekt für Frauen zugenommen und die Moral sich gefestigt hatten. Es gibt ein ganze Reihe solcher Fälle, die meisten lassen sich auf die Jahre unmittelbar nach der Hiǧra datieren, in denen sich die Situation der jungen Umma radikal wandelte. Es existieren zwei Formen von Abrogation: explizit (ṣarīḥ) oder implizit (ḍimni). Die erste ist leicht zu erkennen, weil sie Texte betrifft, die selbst zum Ausdruck bringen, dass eine frühere Regelung geändert wird. Zum Beispiel gibt es im Qur’ān einen Vers (2:142), der den Muslimen befiehlt, sich beim Gebet der Al-Ka‘ba zuzuwenden statt nach Jerusalem. In der Literatur findet man diesen Fall noch viel häufiger. Zum Beispiel lesen wir in einem von Imam Muslim überlieferten Ḥadīṯ: “Ich hatte euch verboten, Gräber zu besuchen; doch nun sollt ihr sie besuchen.” Als Kommentar hierzu erklären die Gelehrten, der Ḥadīṯ, lag in der Frühzeit des Islam, als die Praktiken der Götzenanbetung noch frisch im Gedächtnis der Menschen waren, das Besuchen von Gräbern in der Befürchtung verboten worden war, dass einige neue Muslime dort Götzenkult begehen könnten. Nachdem aber die Muslime in ihrem Verständnis von Tauḥīd gestärkt und dieser in ihrem Bewusstsein und ihren Herzen fest verwurzelt war, wurde dieses Verbot als nicht langer notwendig aufgegeben, so dass es heute empfohlene Praxis für die Muslime ist, Gräber zu besuchen, um für die Verstorbenen zu beten und ans Jenseits erinnert zu werden. Die andere Form des Nasḫ ist subtiler und forderte den Scharfsinn der frühen Gelehrten bis an ihre Grenzen heraus. Dabei handelt es sich um Texte, die frühere aufheben oder modifizieren, ohne im Text selbst darzulegen, dass dies der Fall ist. Die Gelehrten haben dafür eine Vielzahl von Beispielen gegeben, einschließlich der zwei Verse in Sura Al-Baqara, die unterschiedliche Anweisungen bezüglich der Zeitspanne angeben, während derer Witwen (nach dem Tode ihres Mannes) aus dem Nachlass unterhaltsberechtigt sind (2:240 und 234). Und in der Fachliteratur gibt es das Fallbeispiel, in dem der Prophet, Allāhs Segen und Friede auf ihm, als er von Krankheit gezwungen im Sitzen betete, die Gefährten aufforderte, ebenfalls im Sitzen hinter ihm zu beten. Dieser Ḥadīṯ wird vom Imam Muslim überliefert. Und doch finden wir einen anderen Ḥadīṯ, ebenfalls bei Imam Muslim, welcher einen Fall belegt, in dem die Gefährten stehend hinter dem Propheten (a.s.s.) beteten, während dieser das Gebet sitzend verrichtete. Der offenbare Widerspruch wurde durch eine sorgfältige Analyse der Chronologie gelöst, welche zeigte, dass der zuletzt genannte Fall nach dem erstgenannten stattfand und deshalb darüber Vorrang genießt. (Der Morgenstern 4/97) (vgl. 13:39; 16:101 und die Anmerkung dazu).

Arabischer Originaltext:
۞مَا نَنسَخۡ مِنۡ ءَايَةٍ أَوۡ نُنسِهَا نَأۡتِ بِخَيۡرٖ مِّنۡهَآ أَوۡ مِثۡلِهَآۗ أَلَمۡ تَعۡلَمۡ أَنَّ ٱللَّهَ عَلَىٰ كُلِّ شَيۡءٖ قَدِيرٌ


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