Koran, Sure 2, Vers 179

Koranübersetzung:
In der Wiedervergeltung ist Leben für euch, o ihr, die ihr einsichtig seid! Vielleicht werdet ihr fürchten.

Erläuterung:
2:178-179 – Nun werden wir uns mit einigen Bestimmungen des islamischen Strafrechts (arab.: Ḥudūd) beschäftigen. Es muss aber bemerkt werden, dass “Wiedervergeltung” nicht gänzlich mit “Rache” identisch ist. Das islamische Recht zieht nicht nur die Verantwortung des Tötenden für seine begangene Tat in Betracht, sondern legt ebensoviel Nachdruck auf die zivilrechtlichen Verpflichtungen des Täters den Angehörigen des Getöteten gegenüber. Dementsprechend wird Tötung – im Gegenteil zum Raubmord oder Kollektivterror – nicht so sehr als Verbrechen gegen den Staat betrachtet, sondern in erster Linie als Unrecht an den Familienangehörigen des Getöteten, woraus sich das Recht der Angehörigen ergibt, falls sie von der Verhängung der Todesstrafe absehen und von einer angemessenen Entschädigung Gebrauch machen wollen. Somit lassen diese Bestimmungen Raum – sowohl für eine Bestrafung als auch für Gerechtigkeit in der Form einer Wiedergutmachung, in der Sicherheit für die Allgemeinheit liegt, da sie eine wirkungsvolle Maßnahme darstellt, das menschliche Leben zu schützen. Somit trifft der Islam einerseits Vorsorge für die Vorbeugung von Verbrechen, andererseits Güte und Verzeihung zu erweisen. Nach ‘Umar Ibn ‘Abdu-l-‘Azīz und Mālik Ibn Anas darf ein Freier nicht für einen Sklaven und ein Mann nicht für eine Frau getötet werden, und zwar auf Grund dieses Verses. Sie sagen, dieser Vers kommentiere das, was unklar sei in Allāhs Wort “Wir haben ihnen darin (das heißt in der Thora) vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn.” (5:45). Jener letztgenannte Vers sei nämlich offenbart worden, um davon zu berichten, was in der Thora deren Leuten vorgeschrieben ist. Hier hingegen würden die Muslime angesprochen und bekämen das in diesem Vers Stehende als Vorschrift. Nach Qatāda und Abū Ḥanīfa soll dagegen der vorliegende Vers durch Allāhs Wort “Leben um Leben” getilgt sein. Somit bestünde Wiedervergeltung zwischen einem Sklaven und Freien sowie Mann und Frau. Sie ziehen Folgerungen aus dem Wort des Propheten (a.s.s.) “In der Blutschuld sind die Muslime einander gleich”, und aus dem Umstand, dass hinsichtlich der Seelen keine gegenseitige Vorzugsstellung in Erwägung gezogen ist, um zu beweisen, dass eine ganze Schar von Menschen, wenn sie einen einzelnen totgeschlagen hätte, um seinetwillen getötet werden könne. In einem Ḥadīṯ ist es überliefert, dass zwischen zwei arabischen Stämmen in vorislamischer Zeit Blutfehde bestand. Dabei hatte der eine Macht über den anderen und schwor: “Wir werden den Freien von euch für den Sklaven von uns, den Mann für die Frau und zwei für einen töten.” Darauf wandte man sich mit dieser Angelegenheit an den Gesandten Allāhs, und zwar zu der Zeit, da Allāh den Islam brachte. Bei diesem Anlass kam der vorliegende Vers herab, und der Prophet befahl ihnen, sich gegenseitig gleichzustellen. “Und wenn einem der einen Totschlag begangen hat von Seiten seines Bruders, dem die Ausübung der Wiedervergeltung obliegt, etwas nachgelassen wird”: Der Bruder ist der “Walyy” des Getöteten. Man nennt ihn dessen Bruder, weil er ihm insofern nahe steht, sein Bluträcher ist und seine diesbezüglichen Ansprüche betreibt. Oder Allāh (t) erwähnt den Walyy unter der Bezeichnung einer Bruderschaft, damit der eine dem andern durch das Denken daran zugetan sei, was zwischen beiden an Gemeinsamkeit von Artverwandtschaft und Islam besteht. “Soll die Betreibung des Blutgeldes durch den Rächer auf rechtliche Weise und umgekehrt die Bezahlung an ihn auf ordentliche Weise vollzogen werden”: Dies ist eine Anweisung, die denjenigen, dem Nachlass gewährt wird, und den Nachlass Gewährenden gemeinsam betrifft. Das heißt: Der Walyy soll den Totschläger auf rechtliche Weise verfolgen, indem er ihn nicht zu hart behandelt und von ihm nur das verlangt, was er auf gute Weise verlangen kann. Und der Totschläger soll den Gegenwert für das vergossene Blut auf ordentliche Weise erstatten, indem er ihn nicht hinausschiebt oder vermindert. “Dies”: Der angeführte Entscheid über das Nachlassen und das Blutgeld. Die Gemeinschaft der Muslime hat die Wahl zwischen allen drei: Wiedervergeltung, Blutgeld und Nachlassen, was eine Großzügigkeit und Erleichterung für sie darstellt. Nach Qatāda besteht die schmerzhafte Strafe darin, dass man ihn mit Sicherheit töten und kein Blutgeld von ihm annehmen wird, hat doch der Prophet gesagt: “Ich werde dem keinen Nachlass gewähren, der getötet hat, nachdem er Blutgeld angenommen hat.” “In der Wiedervergeltung ist Leben für euch, o ihr, die ihr einsichtig seid!”: Der Sinn ist: In dieser Art von Regelung, wie ihn die Wiedervergeltung darstellt, habt ihr gewaltiges Leben. Man tötete nämlich vorher für einen einzelnen Totschläger eine ganze Schar. Wie viel hat doch der Dichter Al-Muhalhil für seinen Bruder Kulaib getötet, sodass die Sippe von Bakr Ibn Wā’il beinahe verschwunden wäre! Er tötete für den Gemordeten auch solche Leute, die diesen nicht getötet hatten. Dadurch kam es zu Bürgerkrieg und gegenseitigem Zerfleischen unter ihnen. Als nun der Islam das Gesetz der Wiedervergeltung brachte, lag darin das Leben jeglichen Lebens oder einer besonderen Art von Leben, nämlich das Leben, das sich daraus ergibt, dass man sich vor dem Totschlag zurückhält, weil man weiß, dass am Totschläger Wiedervergeltung geübt wird. Wenn dieser nämlich einen Totschlag plant und weiß, dass er der Wiedervergeltung verfällt, und sich so vom Totschlag abhalten lässt, dann ist sein Gefährte vor dem Totschlag und er selbst vor der Wiedervergeltung sicher. So ist die Wiedervergeltung die Ursache für das Leben zweier Menschen. (Zam, Gät).

Arabischer Originaltext:
وَلَكُمۡ فِي ٱلۡقِصَاصِ حَيَوٰةٞ يَٰٓأُوْلِي ٱلۡأَلۡبَٰبِ لَعَلَّكُمۡ تَتَّقُونَ


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